Leben in der Corona-Krise – eine Chance?
Tipps aus der psychologischen Beratung für den neuen Alltag
Im Folgenden sollen Anregungen zur Bewältigung dieser Ausnahmesituation gegeben werden. Die Tipps sind weder allumfassend noch wollen sie über die gravierenden Einschnitte, wie sie Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust, Krankheit und Tod mit sich bringen, hinweggehen. Zu hoffen ist, dass der ein oder andere Hinweis helfen kann, Stress zu reduzieren und Unsicherheiten besser auszuhalten. Absolut notwendig zur Stärkung des Immunsystems und Stressreduktion ist die tägliche Bewegung an der frischen Luft – idealerweise während des Tageslichtes und einhergehend mit tiefem, bewusstem Atmen. Aber auch Kraft- und Dehnübungen zu Hause sind sehr empfehlenswert. Dies merken vor allem jene, die nun im Homeoffice am Küchentisch oder auf dem Sofa stundenlang ganz und gar nicht ergonomisch sitzen. Je nach Lebenssituation und Naturell liegen bei manchen Personen derzeit – absolut verständlich – die Nerven blank. Zudem spielt die Tagesverfassung eine Rolle. Gefühle sollten nicht unterdrückt werden, denn Ängste und Sorgen haben ihre Berechtigung. Verdrängung und Leugnung „negativer Gefühle“ funktionieren langfristig nicht. Das Beste ist, wenn man Sorgen mit anderen Menschen besprechen kann. Ist dies nicht möglich, so bietet es sich an, diese aufzuschreiben. Bereits zehn Minuten am Tag können helfen, Gefühle zu fokussieren und aus Gedankenkarussellen auszusteigen. Regelmäßige Zeiten, ein fester Arbeitsplatz und Ordnung sind die erste Voraussetzung, damit Lernen im Homeschooling funktionieren kann. Eltern sollten wissen, auf welche Weise ihre Kinder Aufgaben zugesendet bekommen und ob sie mit diesen zurechtkommen. Je nach Alter und Lerninhalten können Eltern ihre Kinder unterstützen, ermutigen und loben. Nicht Sinn von Schulaufgaben ist es, wenn Eltern alle Aufgaben mit den Kindern gemeinsam lösen. Denn sie sind keine Ersatzlehrkräfte und sollten nicht die ganze Zeit neben den Kindern sitzen. In der gegenwärtigen Situation kann es vermehrt zu Streit kommen. Es ist hilfreich, in einer ruhigen Stunde zu besprechen, wie man dann miteinander umgehen möchte. Falls mehrere Zimmer vorhanden sind, bietet es sich an, während eines Streits in unterschiedliche Zimmer zu gehen, um sich zu beruhigen. Danach kann man wieder gemeinsam sprechen, die unterschiedlichen Standpunkte in Ruhe vortragen und versuchen, eine Lösung zu finden. Es ist zweifellos wichtig, informiert zu sein. Allein schon, um zu wissen, wie man sich und andere vor dem Virus schützen kann, und welche Regelungen aktuell gelten. So interessant Zeitungen, Online-Ticker und Talk-Shows sind, so wichtig ist die Begrenzung der täglichen Zeit, sich mit diesen Informationen zu beschäftigen. Das „Checken“ der Neuigkeiten sollte auf ein für Körper und Seele verträgliches Maß, zum Beispiel zweimal täglich, begrenzt sein. Denn diese Nachrichten sind Stress und kosten wertvolle Zeit, die man sinnvoller mit anderen Beschäftigungen ausfüllen könnte. Die gegenwärtige Zeit wird von manchen auch deswegen als so bedrohlich erlebt, da sie Krankheit und Tod alltäglich macht. Im „normalen“ Alltag lassen sich diese Themen häufig verdrängen. Katastrophen finden meist weit entfernt statt. Nun jedoch sind wir nicht durch Fernsehbilder, sondern in unserem eigenen Leben mit Fragen des Sterbens konfrontiert. Es ist tatsächlich sehr gesund, sich mit diesen existenziellen Themen zu beschäftigen. Diese Zeit kann den Anstoß geben, eine Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und ein Testament zu verfassen. Die Formulierung der eigenen Wünsche für den Krankheits- und Todesfall schafft Seelenfrieden. Den Angehörigen können hierdurch viel Stress und Streit in Zukunft erspart bleiben. Inzwischen wissen wir, dass die Bewältigung der gegenwärtigen Krise ziemlich lange dauern wird. Große Stadt- und Volksfeste sind bis Ende August abgesagt. Ob und wie sich die Sommerferien gestalten lassen, ist noch nicht entschieden. Hierauf kann man sich bereits jetzt mental einstellen: Wie möchten Sie, für sich allein, als Paar oder Familie, die Sommerzeit verbringen? Wir wissen, dass vieles nicht möglich sein wird. Da erscheint es besser, sich bereits jetzt alternative Beschäftigungen vorzunehmen, als im Sommer jeden Tag aufs Neue zu bedauern, was alles nicht geht. Zudem: Stellen Sie sich vor, in fünf oder zehn Jahren blicken Sie auf die „Corona-Krise 2020“ zurück. Worauf möchten Sie dann stolz sein? Was möchten Sie in dieser Zeit geschaffen oder gelernt haben? Und was könnten Sie bereits heute hierfür tun? Je nach Lebenssituation kann es sinnvoll sein, professionelle Unterstützung bei Krisen zu suchen. Es ist nie eine Schande, Rat einzuholen; erst recht nicht in dieser Zeit. Jeder ist gerade dabei, für sich selbst und die Familie eine „neue Normalität“ zu entwickeln. Der Umgang mit Unsicherheiten ist Teil dieser Normalität. Bestehende Konflikte, Ängste, Schlafstörungen und Süchte können durch den gegenwärtigen Stress aktiviert und verstärkt werden. Die Organisation von Homeoffice und Homeschooling sowie das altersgerechte Sprechen mit Kindern und Jugendlichen in der Krise bringen viele Alleinstehende und Familien an ihre Belastungsgrenzen. Einige psychologische Beraterinnen und Berater haben sich auf die neue Situation eingestellt, um in kurzer Zeit Lösungen zu erzielen. Es ist nur konsequent, dass einige Praxen nun auch Video-Sprechstunden anbieten. Es gibt noch einiges, was in der jetzigen Situation helfen kann. Zum Beispiel ist es sehr sinnstiftend, anderen Menschen zu helfen und zutiefst dankbar zu sein für die Lebensbereiche, in denen es einem gut geht. Auch Humor und Nachsicht zu üben – mit sich selbst und anderen –, reduziert Stress. So schwierig die gegenwärtige Krise ist, so sehr kann sie eine Chance sein, neue Gewohnheiten und Fähigkeiten zu entwickeln, auf die man „nach Corona“ nicht mehr verzichten möchte.