
Wer auffährt, hat immer Schuld?
BGH schafft Klarheit zum Anscheinsbeweis bei Auffahrunfall
Auf einer Bundesautobahn kommt es zu einem Stau. Der Kläger fährt mit seinem Fahrzeug voraus. Wegen des Stau-Endes bremst er ab. Der Beklagte fährt mit seinem Fahrzeug hinter dem Fahrzeug des Klägers und fährt auf dessen Fahrzeug auf. Im Prozess vor dem OLG München hat der Beklagte erklärt, der Kläger sei mit seinem Fahrzeug kurz vor dem Auffahrunfall von der mittleren Fahrspur auf die linke Fahrspur gewechselt. Der Vordermann kann nun mit dem Anscheinsbeweis argumentieren: Der Hintermann ist aufgefahren, deshalb habe er den Unfall alleine verursacht. Nach der Rechtsprechung des OLG München konnte der Vorausfahrende nur dann den Anscheinsbeweis geltend machen, wenn er so lange im gleichgerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren war, dass der Hintermann den benötigten Sicherheitsabstand hätte einhalten können. Gegen diese Rechtsprechung hat sich nun der Bundesgerichtshof gestellt. Er hatte den folgenden Fall im Jahre 2016 zu entscheiden gehabt: Die Klägerin ist mit ihrem Motorrad auf der rechten Fahrspur einer Bundesautobahn gefahren. Sie behauptet, dass der Beklagte mit seinem Kastenwagen zunächst auf der Überholspur gefahren sei. Er habe dann „brutal“ abgebremst und sei auf die rechte Fahrspur ruckartig hinüber gefahren. Deshalb habe sie keine Möglichkeit gehabt auszuweichen und sei auf das Fahrzeug des Beklagten aufgefahren. Der Beklagte behauptet, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden habe. Nach der Judikatur des BGH sei es nicht Aufgabe des sich auf den Anscheinsbeweis stützenden Vorausfahrenden zu beweisen, dass ein Spurwechsel nicht stattgefunden habe. Der Vorausfahrende kann sich deshalb bei einem Auffahrunfall auf den ersten Anschein beziehen, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft verursacht habe, weil er • den erforderlichen Sicher heitsabstand nicht eingehalten habe, • unaufmerksam gewesen sei • oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren sei. Der Auffahrende müsste sodann darlegen und beweisen, dass eine Besonderheit vorläge, die dieser Typizität der Auffahrunfälle widerspräche. Einen solchen Beweis könne die Klägerin etwa durch Zeugen führen, die das Unfallgeschehen beobachtet haben. Das hat die Motorradfahrerin in jenem Fall des BGH nicht tun können. Denn es hat keine Zeugen des Unfallgeschehens gegeben. Deshalb habe die Motorradfahrerin – wegen des Anscheinsbeweises - den Verkehrsunfall zu 100 % verschuldet. Unser allgemein bekannter Satz: „Wer auffährt hat immer Schuld“ ist deshalb nur insoweit richtig, als dem Auffahrunfall nicht etwa ein Spurwechsel oder sonst ein unübliches Ereignis vorangegangen ist. Dieses unübliche Ereignis hat aber der Auffahrende zu beweisen, um den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Gelingt ihm das nicht, liegt das Verschulden des Verkehrsunfalles bei dem Auffahrenden. Er – bzw. seinen Haftpflichtversicherung - hat dem Vorausfahrenden den Schaden vollständig zu ersetzen.