Ist das monetäre Wachstum allein noch zeitgemäß?

Welche Kriterien neben Wachstum und Profit für das Wirtschaftssystem zukünftig eine Rolle spielen

Bernhard Becker Und Jan Handzlik

Seit Generationen zählen folgende Aussagen zu den wesentlichen Grundpfeilern unseres Wirtschaftssystems:

   Stetiges Wachstum ist für den wirtschaftlichen Erfolg unerlässlich.

   Die Gewinnmaximierung ist das Hauptziel erwerbswirtschaftlicher Unternehmen.

   Erfolg/Glück/Wohlfahrt von Menschen, Unternehmen und ganzen Volkswirtschaften wird in Form von Geld gemessen.

Gleichwohl finden sich in nahezu jeder Verfassung demokratischer Staaten Inhalte, laut denen z. B. Eigentum verpflichtet oder dem Wohl der ganzen Gesellschaft höchste Priorität eingeräumt werden sollte. Passen diese Themen nach Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs noch übereinander? Oder ist ein Umdenken nötig, um langfristig und nachhaltig vernünftig zu wirtschaften?

Hierzu wollen wir die oben genannten Grundannahmen unseres Wirtschaftssystems kurz kritisch hinterfragen. Ziel dabei ist es nicht das gesamte System in Frage zu stellen, sondern lediglich Denkanstöße zu geben, für mögliche Anpassungen mit dem Ziel ein nachhaltig im Einklang befindliches Wirtschaftssystem zu schaffen.

Wachstum um jeden Preis?

Wenn jedes Unternehmen stetig wachsen muss, um nachhaltig wirtschaftlich erfolgreich zu sein, führt dies aufgrund der begrenzten Ressourcen auf der Erde (der „Kuchen“ wird schließlich nicht größer) zu gegenseitiger Verdrängung. Durch technischen Fortschritt und Innovation kann Wertschöpfung ressourceneffizienter gestaltet werden, nichtsdestotrotz mündet der Verdrängungsprozess langfristig darin, dass nur einige wenige Großkonzerne „überleben“. Diese Großkonzerne erreichen irgendwann einen Status, der möglicherweise als „systemrelevant“ bezeichnet werden kann. Beispiele einer solchen Marktmacht zeigen sich bereits bei Amazon und Google, um nur zwei der ganz großen zu nennen. In verschiedenen Science-Fiction-Filmen werden Szenarien entworfen, in denen Staatsgewalt mit der so wichtigen Gewaltenteilung faktisch von privaten Unternehmen bestimmt wird. Heute erscheinen solche Szenarien nicht mehr vollkommen unrealistisch. Vorsicht und Einsicht sind hier auch bezogen auf freies wirtschaftliches Handeln geboten oder müssen ein fester Bestandteil zukünftiger Betrachtungen sein, um insbesondere den Mittelstand zu schützen.

Gewinnmaximierung als oberste Zielgröße?

Die meisten etablierten BWL-Lehrbücher behandeln in zahlreichen Modellen das Konzept der Gewinnmaximierung. Für betriebswirtschaftliche Entscheidungsmodelle, in denen unter Berücksichtigung von vereinfachenden Annahmen ein Output maximiert werden soll, ist der Einsatz dieser Modelle absolut sinnvoll. Problematisch wird es allerdings, wenn bei Studierenden insgesamt der Eindruck entsteht, dass alle privatwirtschaftlichen Unternehmen nur ein einziges, über allem stehendes Ziel haben – die Gewinnmaximierung. Es steht außer Frage, dass Unternehmen grundsätzlich nach Gewinn streben müssen. Geschäftsmodelle, die „sich nicht rechnen“ werden berechtigterweise am Markt nicht erfolgreich sein. Unternehmer*innen steht für das eingegangene Risiko und die hohe Hingabe bei der Führung von Unternehmen eine angemessene Vergütung zu. Gründer*innen – die wir nicht zuletzt für Innovationen in der Wirtschaft dringend benötigen – brauchen einen Anreiz, um den Mut aufzubringen ihre Ideen umzusetzen. Gewinnerzielung darf hier aber nicht mit Gewinnmaximierung verwechselt werden. Andersherum ausgedrückt: Unternehmen, die in ihrem Zielsystem neben finanziellen Größen auch ökologische und soziale Kriterien heranziehen, sind nicht automatisch als „Wohltätigkeitsveranstaltung“ anzusehen. Grundsätzlich sollte es sich bei Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit ohnehin nicht um eine „entweder oder“ Entscheidung handeln. Evtl. muss bei der Etablierung nachhaltiger Geschäftsprozesse kurzfristig auf Gewinn verzichtet werden. Langfristig gilt aber im besten Fall: Nachhaltigkeit führt auch zu einem höheren wirtschaftlichen Erfolg. Bis dahin ist es allerdings oft ein langer Weg.

Ein Grund, warum Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit heute in einigen Fällen im Widerspruch stehen, sind die sogenannten Externalitäten. Dabei handelt es sich um Kosten – oder auch Nutzen – die nicht beim Verursacher anfallen, sondern bei Außenstehenden. Beeinträchtigungen der ökologischen Umwelt führen beispielsweise zu hohen Kosten für die Gesellschaft, die unter Umständen erst einige Generationen später anfallen. Unternehmen, die diese Beeinträchtigungen verursachen, müssen dafür allerdings häufig nichts zahlen – es fallen keine Kosten an. Andere Unternehmen, die nachhaltig agieren und Umweltbeeinträchtigungen vermeiden, haben sehr wohl Kosten, die für entsprechende Nachhaltigkeitsmaßnahmen anfallen. Um Produkte und Dienstleistungen kostendeckend anbieten zu können, müssen höhere Preise verlangt werden. Steht der Kunde nun im Supermarkt und hat zwei Produkte zur Auswahl, wird häufig – ohne dass nähere Informationen z. B. zur Herstellungsweise vorliegen – das günstigere Produkt gekauft. Die beschriebene Problematik gilt natürlich nicht nur für Geschäfte zwischen Endverbrauchern und Unternehmen. Die Wertschöpfungskette bei der Herstellung von Produkten erstreckt sich i. d. R. über eine Vielzahl von Unternehmen. Kauft ein Unternehmen beispielsweise seine Rohstoffe bei einem Lieferanten ein, stellen sich dieselben Fragen, wie oben beschrieben.

Lösungsansätze des Problems liegen zum Beispiel in der Schaffung von Transparenz über die Nachhaltigkeitsleistungen von Unternehmen. Viele Kunden sind heute bereit mehr für Produkte zu zahlen, die auf nachhaltige Art und Weise produziert wurden. Ein weiterer Ansatz besteht in der sogenannten „Internalisierung von Externalitäten“, d.h. Unternehmen müssen für Umweltbeeinträchtigungen mit Kosten belastet werden. Oder andersherum: Unternehmen müssen für ihre Nachhaltigkeitsleistungen entsprechend vergütet werden.

Geld als alleinige Messgröße des Erfolgs?

Heutzutage wird in der Wirtschaft nahezu alles in Form von Geld gemessen. Sei es der Erfolg von Unternehmen und Volkswirtschaften, die Attraktivität von Jobs oder die Höhe des „Vermögens“. In diesem Zusammenhang kann von einer sogenannten Kriterienarmut in unserer Gesellschaft gesprochen werden. Wir streben ein hohes Einkommen an, um unsere Wohlfahrt zu erhöhen. Wirft man einen Blick auf die Statistik, dann gelingt uns das über die letzten Jahrzehnte sehr gut. Eine Möglichkeit zur Messung der Wohlfahrt wird im Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesehen. Dieses betrug in Deutschland im Jahr 1970 rd. 360 Milliarden € (umgerechnet). In 2020 betrug das BIP in Deutschland 3.336 Milliarden €. Angenommen das BIP eignet sich tatsächlich zur Messung der Wohlfahrt, dann müssten wir (ungeachtet notwendiger Bereinigungen um Inflation und weitere Effekte) heute also mehr als neunmal glücklicher sein, als noch vor 50 Jahren. Wie kommt es dann, dass zunehmend Menschen an psychischen Erkrankungen leiden, Einsamkeit, notorische Zeitknappheit und Stress empfinden und über Rücksichtslosigkeit und Wettbewerbsdruck im Job klagen? Häufig ist das gesamte Streben darauf ausgerichtet mehr Geld zu verdienen, in der Annahme, dass uns das glücklicher macht. Nicht zuletzt die Werbung trägt dazu bei, dass wir auch wirklich daran glauben. Es stellt sich also die Frage, ob zur Messung von Glück bzw. Wohlfahrt neben dem Geld vielleicht noch weitere Messgrößen herangezogen werden sollten.

Die zuvor beschriebenen Themen sind nicht neu. Schon seit Jahrzehnten kursiert der Begriff Nachhaltigkeit in der Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Verschiedene Organisationen entwickeln Nachhaltigkeitsstandards, Richtlinien, Konzepte usw. Zahlreiche Stimmen aus der Wissenschaft oder beispielsweise die Initiative „fridays for future“ erhöhen den Druck auf Politik und Wirtschaft nachhaltiger, insbesondere im Hinblick auf die ökologische Umwelt, zu denken. Im deutschen Mittelstand wird das Thema Nachhaltigkeit noch eher stiefmütterlich behandelt. Hier ist ein Umdenken gefragt, denn es ist davon auszugehen, dass das Thema weiter an Bedeutung gewinnen wird und langfristig zu einem echten Wettbewerbsfaktor, sowohl in der Kunden-Lieferanten-Beziehung, als auch bei der Suche nach Personal, avanciert.

Praktische Ansätze

Für Unternehmen finden sich einige konkrete Ansätze, wie sich das Thema Nachhaltigkeit in Unternehmensführung, Controlling und Berichterstattung implementieren und verfolgen lassen. Hierzu zwei kurze Beispiele:

   Projekt QuartaVista: Das Projekt beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie das Thema Nachhaltigkeit im Finanz- und Rechnungswesen berücksichtigt werden kann. Nach den in Deutschland geltenden Gesetzen zur Rechnungslegung gilt die Büroausstattung als Vermögen eines Unternehmens. Der Mensch, welcher in diesem Büro arbeitet, wird als „Aufwandsposition“ erfasst. An diesem simplen Beispiel wird die Problematik deutlich. Sollten nicht wesentliche, nachhaltige Erfolgsfaktoren, erfolgswirksam in der Bilanz aktiviert werden können? Und müssten nicht zuvor beschriebene negative Externalitäten zu einer Schuld-Position in der Bilanz führen? QuartaVista hat hier bereits konkrete Ansätze entwickelt wie Nachhaltigkeitsleistungen von Unternehmen bilanzierungsfähig gemacht werden könnten.

   Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ): Die Bewegung entstand 2010 in Österreich und beschäftigt sich mit Überlegungen zur Entwicklung eines Wirtschaftssystems, welches auf gemeinwohl-fördernden Werten aufgebaut ist. Das Konzept der GWÖ bietet Unternehmen beispielsweise die Möglichkeit eine Gemeinwohl-Bilanz, die in einem Gemeinwohl-Bericht mündet, aufzustellen. In dieser Bilanz werden verschiedene Nachhaltigkeitsfaktoren, wie z. B. die ökologische Nachhaltigkeit in der Zuliefererkette oder innerbetriebliche Mitentscheidung und Transparenz analysiert und nach einem Punktesystem bewertet. Das Ergebnis können Unternehmen dann extern prüfen lassen und veröffentlichen.

Diese beiden Beispiele zeigen anschaulich auf, dass es durchaus einfache und konkrete Ansätze gibt, sich entlang nachhaltigem Gedankengutes im Einklang mit wirtschaftlichen Erfordernissen zu bewegen. Damit sich das Thema Nachhaltigkeit umfänglicher in der Wirtschaft etabliert, bedarf es aber vermutlich weiterer (politischer) Vorgaben, die z. B. die Internalisierung von Externalitäten fördern. Der Handel mit Emissionszertifikaten kann hier beispielhaft als Instrument der Umweltpolitik genannt werden. Es bedarf eines gesellschaftlichen Umdenkens, welches unter anderem dadurch angestoßen werden kann, dass Studierenden auch in einem BWL-Studium vermittelt wird, dass im Wirtschaftsleben Geld und Gewinn zwar wichtig sind, aber nicht allein als Messgröße für den wirtschaftlichen Erfolg herangezogen werden dürfen.

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